Warum werden Bürger ausgespäht? Samstag, 13. Juli 2013. Der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland darf in die Hauptstadt des mächtigsten Verbündeten reisen, um sich Informationen darüber vorenthalten zu lassen, ob er, seine Regierung und Menschen in Deutschland unter Verletzung von Verfassungsgrundsätzen sowie von deutschem Recht und Gesetz (diese im Grundgesetz festgeschriebene Unterscheidung ist bedeutend) ausspioniert werden und, wenn ja, wer denn deutsche Bürger ausgespäht hat oder ausspäht. Das Aufnahmeersuchen des Mannes, der auf die mögliche Verletzung fundamentaler Rechte aufmerksam machte, wurde abgelehnt; er wurde an Staaten verwiesen, die jene Grundsätze nicht achten, auf die er sich beruft.

Auf welcher Grundlage werden die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, die Handlungsvollmacht ihrer demokratisch gewählten Regierung und die Grundrechte von Menschen in Deutschland ausgehöhlt?

Geheimdienste sammeln Daten zur Kommunikation. Wo liegt das Problem? Warum heißt es böswillig, es würden “Bürger ausgespäht”? US-Präsident Obama verteidigt das systematische Datensammeln mit dem alten Argument, der amerikanische Staat könne die Sicherheit seiner Bürger nur gewährleisten, wenn er Informationen über sie und über Menschen weltweit besitze. Dahinter steckt die Ansicht, man könne Meinungen und Werte, Pläne und Haltungen eines anderen Menschen dadurch erkennen und beeinflussen, dass man Wissen über ihn sammelt.

Der Skandal liegt in der Blauäugigkeit dieser Ansicht. Philosophen haben längst eingesehen: Wir können nicht wissen, was ein anderer Mensch denkt, meint oder fühlt, und selbst wenn wir es wissen, kann unser Handeln ihm gegenüber nicht allein durch dieses Wissen geleitet werden. Unserem Wissen über einen anderen Menschen sind unverrückbare Grenzen gesetzt. Eben weil er ein anderer Mensch ist. Wir können nicht in sein Gehirn, in seinen Körper, in seinen Geist eindringen. Diese Einsicht musste sich im Laufe der Geschichte des menschlichen Denkens erst herausbilden, aber sie ist inzwischen in ihrer Bedeutung deutlich.

Technologische Veränderungen können den Grenzen unseres Wissens über einen anderen Menschen nichts anhaben (eindrucksvoll belegt wird das durch die beiden Tatsachen, dass die NSA von Edward Snowdens Plänen nichts erfuhr und dass sie ihn, nachdem er sie umsetzte, tagelang nicht aufspüren konnte). Indem Präsident Obama sich weiterhin auf das Wissenwollen, einzig auf das Sammeln von Informationen verlegt und einem altmodischen Menschenbild anhängt, vernachlässigt er das Feld, auf dem man eine Lösung für die Konflikte finden könnte, aus denen Terrorakte hervorgehen. Dieses Feld hat nichts mit dem Wissen über andere Menschen zu tun, mit der Epistemik (der Lehre vom Wissen).

Sondern mit der Ethik. Sobald jemand einsieht, dass er nicht wissen kann, was einen anderen umtreibt, stellt sich ihm die Frage, wie er mit diesem anderen umgehen soll. Wie sie beide in der selben Welt leben können. Es ist nämlich gar nicht so schlimm, nicht alles übereinander zu wissen. Schlimm ist nur, dass einige glauben, einen Menschen erst dann würdigen zu können, wenn sie etwas von ihm wissen. Der Nächste ist aber unser Nächster, auch wenn er ein Fremder ist. Und er ist letztlich immer ein Fremder, auch wenn er noch so lange als Bürger ausgespäht wird. Diese Fremdheit, also die Eigenständigkeit, die Würde jedes Einzelnen nicht zu achten und unser nie aufzuhebendes Unwissen über ihn nicht anzuerkennen, darin liegt der Skandal des sicherheitspolitisch maskierten Datensammelns.