Dichter — sind das die verträumten Gequälten, die für ihre Kunst leiden und immer nah am Wahnsinn entlangschlittern? Das Vorurteil hält sich hartnäckig, und viele Schreibende tun ihr Möglichstes, um es zu pflegen. Aber den Wahnsinn anzuhimmeln ist selbst Wahnsinn, sagt jetzt Joshua Mehigan, der Dichter aus Brooklyn, in einem neuen Text gegen Genie und Wahnsinn.
In seinem Essay “I thought you were a poet” redet er Klartext: Viele, die sich als inspiriertes Genie gerieren, sind Schauspieler. Es könne sogar sein, “dass die meisten visionären Gedichte der letzten Zeit von Nachahmern geschrieben wurden, die Nachahmer nachahmen, die Nachahmer nachahmen, die Nachahmer nachahmen, die andächtig ein paar wenige Originale nachahmen.” Wer dem etablierten Modell des wahnsinnigen Genies genüge zu tun versuche, habe einfach nicht verstanden, wie sehr die tatsächlich psychisch gestörten Dichter unter ihrer Krankheit leiden. Hier spricht Mehigan aus schlimmer Erfahrung. In seinem Essay zählt er die Syndrome und Symptome auf, die bei ihm festgestellt wurden, und die verschiedenen Heilmethoden, die er schon versucht hat. Mehigan verschweigt nichts und erschüttert damit seine Leser.
Der Essay ist in der Ausgabe Juli/August 2011 der Zeitschrift Poetry erschienen und gehörte im Jahre 2011 zu den meistgelesenen und heiß diskutierten Artikeln auf der vielbesuchten Webseite der Poetry Foundation. Zudem wurde er als bester Essay des Jahres ausgezeichnet.
In der neusten Ausgabe der Zeitschrift Krachkultur erscheint “Ich dachte, Sie wären Dichter” jetzt erstmals auf Deutsch. Ich habe den Essay gegen Genie und Wahnsinn übersetzt, nachdem ich bereits einige Jahre mit Joshua Mehigan zusammenarbeite und eine ganze Reihe seiner Gedichte ins Deutsche übertragen habe. Ich würde mich freuen, wenn der Essay auch in Deutschland zum Nachdenken anregt.