Neue Versionen von Grimms Märchen

Grimms allegorisches Märchen “Die Boten des Todes” habe ich mir zu Herzen genommen und etwas moderner formuliert: Ein Bodybuilder, der den Tod kurz und klein schlägt, und ein verträumter Berliner, der ihm mit einem Bier vom Rewe wieder auf die Beine hilft, sind die Hauptpersonen. Da es sich um ein episches Thema handelt, wird das Ganze im Blankvers gestaltet. Kostprobe:

Er nennt sich Gott, das machen alle so.
Er senkt die Arme, und man denkt, er senkt
Die Panzerfaust, die nie zum Einsatz kam,
Er kämpft, solang er keinen Gegner hat.
Er spielte einmal draußen Basketball,
Dann wieder in die Halle, abends spät,

Er zeichnet alles auf. Erst Kardio,
Dann Free weights. „He’s on steroids“, sagt der Nachbar
Und hat natürlich recht. Beim Duschen fließt
Die heiße Zeit ab, und die kalte Zeit.
Massiver Gott, die andern sehen es.
Da steht er, Beine, Rücken, Schultern, Brust.

„Ich bin der Tod“, sagt einer irgendwann.
Hat er noch nie gehört. Sieht nach nichts aus,
So mager, wie er vor den Duschen steht.
Er zeigt ihm seinen Oberarm, der soll
Erstmal trainieren, zieht sich seine Jeans an,
Streift sich ein T-Shirt über und geht heim.

Der andere sinkt zusammen und wird rot.
Dann steht er auf, rennt auf die Straße, schämt
Sich weiter. Keiner weiß, woran er denkt.
Es guckt auch keiner hin. Am liebsten will er
In einer Ecke liegen, Haar und Knochen,
Wer würde auf der Gegenwart beharren.

Dann kommt wer, fragt: „Wie wärs mit einem Bier?“

Und dann geht die Handlung erst richtig los. Entstanden ist meine Version der »Boten des Todes« im Rahmen des deutsch-israelischen Austauschprojektes »Alltag« im Verlagshaus Berlin, und erschienen ist es in der Lyriksammlung »Märchenland«.

Die Boten des TodesDie beteiligten Autoren setzten sich mit den Märchen der Gebrüder Grimm auseinander, brachten ihre prosaische Form auf eine lyrische Ebene und begaben sich in die mitunter ambivalenten Bereiche des kulturellen Gedächtnisses in Deutschland und Israel. In beiden Kulturen spielen Märchen eine bedeutende Rolle.

Die Gedichte der deutschen und israelischen Autoren werden von den Illustrationen junger israelischer Künstler der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem ergänzt. Auch den Illustratoren unter der künstlerischen Leitung von Felix Scheinberger dienten die Originalmärchen als Inspirationsquelle; die Ergebnisse stehen gleichberechtigt neben den Gedichten.

In Wort und Bild werden »Die Boten des Todes« und andere Märchen ihrer Vergangenheit entrissen und inhaltlich wie formal in die Gegenwart überführt. Die Anthologie zeigt nicht zuletzt, dass den Themen der Märchen Urbilder zugrunde liegen, die – ganz ohne überbordende Interpretationsversuche – auch den heutigen Alltag in Israel und Deutschland zu spiegeln imstande sind; dies zeigt sich an den  über zwanzig farbigen Illustrationen ebenso wie an den Gedichten.

Weitere beteiligte Autoren:
Dominic Angeloch, Nora Bosson, Tom Bresemann, Jan Decker, Alexander Græff, Stefan Heuer, Lilly Jäckl, Einav Katan, Janine Lancker, Swantje Lichtenstein, Johanna Melzow, Tal Nitzan, Marion Poschmann, Ulrike Almut Sandig, Yaara Shehori, Mati Shemoelof, Lutz Steinbrück, Thien Tran, Asmus Trautsch und Philipp Weber.

Grimms Märchen neu geschrieben: Die Boten des TodesDas Buch wurde am 29. April 2010 in der Jüdschen Allgemeinen besprochen.

 

Märchenland
Quartheft 17 der Bibliothek Belletristik
100 Seiten | Hardcover
ISBN: 978-3-940249-12-8
Preis: 26,90 €