Die Ehe beginnt mit einem entschiedenen “Ja, ich will.” Die Freundschaft wird nicht erklärt. Anders als die Liebe kann sie auch gar nicht wirklich erklärt werden. Und trotzdem fangen Freundschaften irgendwo an, selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. In der Moderne vor den sozialen Medien war klar, wie das ging. Die Seele des Einzelnen konnte, wie wir seit Emily Dickinson wussten, „select her own society“. Sie hatte die Freiheit, sich diejenigen auszusuchen, mit denen sie umgehen wollte. Allerdings bewahrte sie sich diese Freiheit, indem sie ihre Wahl nicht traf. Die Seele wählte nicht, sondern „shuts the door; | On her divine majority | Obtrude no more.“ Sie war frei, aber einsam. Die literarische Moderne war keine Hochzeit der Freundschaft.

Emily Dickinsons Seele hatte Angst davor, sich ihrer Freiheit zu begeben, indem sie sich an andere Menschen band und sich deren Blicken aussetzte. Jeder Freund war für sie ein potenzieller Feind, ein Zensor des unmittelbaren Ausdrucks ihrer Seele. Das ist eine Extremposition, aber wir wissen, dass Freunde zu Feinden werden können. Wir wissen, dass wir Feinde haben. Wir wissen, dass das, was wir unseren Freunden schreiben, von übelwollenden Mitlesern geprüft werden kann, die es auf dem einen oder anderen Weg erhalten.

Das können die klassischen politischen Zensoren sein und die Algorithmen von Anbietern und Werbepartnern. Wer sich trotzdem nicht verstellen will, muss sich einschränken. Davon spricht Tomas Tranströmers Gedicht „An Freunde hinter einer Grenze“. Es spricht davon, dass ein Autor für den böswilligsten Leser, den Zensor, schreiben muss, weil sonst das Gedicht abgefangen würde und die Mühe umsonst wäre. Das Gedicht soll als Ganzes verständlich und unbezweifelbar sein. Bittere Konsequenz: die Kargheit. Aus Wahrheitsliebe für den am wenigsten Wahrheitsliebenden zu schreiben, bezeugt die Stärke der Freundschaft mit dem Leser.

Die Kritik aller Demokraten (Dickinson, Tranströmer und viele facebook-Nutzer eingeschlossen) am Zensor und an denen, für die er arbeitet, beruht darauf, dass sie genau das tun, was Emily Dickinson für die Seele des freien Bürgers reklamiert: Sie tun so, als könnten sie ihre Gesellschaft frei wählen. Die Kritik an dieser Einstellung formulierte Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Die Lösung“. Nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR schrieb er: „Wäre es da | nicht einfacher, die Regierung | löste das Volk auf | und wählte ein anderes?“ Die einzelnen Mitglieder der Regierung und diese als ganze haben das Recht, für andere mitzusprechen, weil sich diese anderen für sie ausgesprochen hatten. Sie müssen ihre Gesellschaft daher so annehmen, wie sie sich ihnen geboten hat. The soul selects her own government, yet the soul of the government must not select her own society. Wer selbst gewählt wurde, besitzt seine Gesellschaft. Mit ihr muss er rechnen. Oder um es netter und trotzdem mathematisch zu sagen: Er muss auf sie zählen wollen. Emily Dickinson kritisiert am Repräsentationsverhältnis die Unfreiheit, Brecht an seinem Missbrauch die Unverantwortlichkeit. Ein Unternehmen und seine Vertreter wurden nicht gewählt, was die Kritik an einem vermeintlich oft undemokratischen (unfreundlichen) Verhalten noch verschärft.

Die sozialen Medien werfen neues Licht auf vier Fragen, die für die freundschaftliche ebenso wie die politische (Freund/Freund- bzw. Freund/Feind-)Kommunikation wichtig sind: Wer spricht für wen? Wer spricht überhaupt? Wer spricht mit wem? Und wer spricht worüber? facebook und twitter als demokratische Medien sind Katalysatoren der arabischen Aufstände. Indem sie einem Menschen die Möglichkeit eröffnen, Aussagen zu machen, stellen sie ihn vor die Frage, was er zu sagen hat. Wer auf einmal die Möglichkeit spürt, etwas auszusagen, verändert sich bereits. Wer facebook nutzt, denkt über das Wesen, den Nutzen und die Gründe von Kommunikation, Freundschaft, Privatsphäre und Verantwortung neu nach. Daher fordert facebook unseren Freiheitsbegriff heraus.

Mehr zu diesen Fragen in dem Essay von Christophe Fricker, “Tranströmer — Gaddafi — Büchner: Ein Blick auf Freundschaft und soziale Medien im Krisenjahr 2011”, erschienen vor Kurzem in Heft 103/104 der Zeitschrift L. Der Literaturbote.