Das Thema Stefan George und der Erste Weltkrieg ist komplex. Es fing schon ungewöhnlich an: Der Krieg brach aus, und George schwieg. Der Dichter Stefan George äußerte sich als einer von wohl nur ganz wenigen deutschen Künstlern und Intellektuellen erst 1917 öffentlich zum Ersten Weltkrieg. Im Juli 1917 veröffentlichte er sein umfangreiches Gedicht „Der Krieg“ in der für ihn (und für Gedichte überhaupt) ungewöhnlichen Form des Separatdrucks, fast wie eine Flugschrift. Das Gedicht kritisiert die moderne Materialschlacht, es drückt die Hoffnung auf ein Weiterleben heimatlicher Kräfte aus, und es präsentiert einen “Seher”, der vieles schon vorher geahnt hat, vor vielen Exzessen schon warnte, aber von seiner Umwelt ignoriert wurde.

George übernahm das Gedicht dann unverändert in seinen 1928 erschienenen letzten Gedichtband Das neue Reich. Es steht dort an vierter Stelle, umgeben von neun anderen hymnisch-epischen Gedichten. Sie bilden den Kern von Georges Werk. Neben „Der Krieg“ setzen sich auch einige andere Gedichte in dem Band explizit mit dem Ersten Weltkrieg auseinander: die beiden unmittelbar folgenden, „Der Dichter in Zeiten der Wirren“ und „Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg“; „Geheimes Deutschland“, Georges wichtigstes Gedicht überhaupt; der fünfteilige „Spruch“ an den niederländischen Lyriker Albert Verwey in den „Sprüchen an die Lebenden“ sowie die gesamte Abteilung der „Sprüche an die Toten“, die gefallenen Freunden gewidmet ist – nicht aber die Abteilung „Das Lied“, mit der Das neue Reich endet, und auch nicht die Gedichte „Goethes lezte Nacht in Italien“ und „Hyperion“, mit denen es begann. Krieg wird durch Frieden gerahmt, und zwar auf der Ebene des ganzen Bandes, einzelner Abteilungen und einzelner Gedichte.

Ist „Der Krieg“ ein autobiographisches Gedicht? Das ist aus zwei Gründen schwer zu sagen. Denn der Seher ist nicht die einzige Figur, die man auf George beziehen könnte. Das Gedicht ist außerordentlich vielstimmig. Und es ist auch gar nicht ohne Weiteres klar, worauf eine autobiographische Lesart des Gedichts verweisen würde – auf Georges Taten? Auf seine Äußerungen außerhalb von Gedichten? Vielleicht sogar auf andere Gedichte? George war kein Soldat oder Offizier, der Fronterlebnisse sammeln konnte. Er kannte den Ersten Weltkrieg, den er bereits lange vor dem Zweiten so nannte, aus Briefen und mündlichen Berichten dienender Freunde und nahm seine Wirkung wahr, wenn er bemerkte, wie sich ihre Persönlichkeit veränderte.

Die Vielstimmigkeit des Gedichts und dessen Bezüge zu Gesprächen und Briefen Stefan Georges untersuche ich in einem Beitrag, der im Herbst 2014 in einem Sammelband zu Autobiographie und Krieg erschienen ist. Ich freue mich, wie immer, auf Post dazu.