Was sagt man nicht alles über Stefan George. Man nennt ihn einen “Schreckensherrscher”, der für einen “Eliminierungsschub” plädierte und all die vernichten wollte, die ihm nicht schön genug waren. Da sei es zum Natio­nalsozialismus nur ein kleiner Schritt gewesen: “Man kann einfach das, was sich in Deutschland und in ganz Europa vor und nach 1933 abgespielt hat, nur verstehen, wenn man sich von Stefan George und seinem Kreis einen Begriff macht.” George war der “unumschränkte Herrscher im Staat des Geheimen Deutschland”, der “politi­sche Organisationsform” mit einem “völkischen Brachial­erlöseran der Spitze errichten wollte. Zeit also, das Thema “Stefan George und der Nationalsozialismus” einmal zu systematisieren.

Die Tendenz dieser Zitate, die in Stefan George: Gedichte für Dich einzeln nachgewiesen sind, habe ich in meinem Buch diskutiert. Nun wird George auch für den Terror des so genannten „Nationalsozialistischen Untergrundsverantwortlich gemacht. Dieser sei das „geheime Deutschland“, von dem George sprach. Zu dem komplexen Thema „George und der Nationalsozialismus“ daher folgender Hinweis.

Das Thema lässt sich auf vier Ebenen angehen, die miteinander verflochten sind, aber voneinander unterschieden werden können.

Erstens: Georges dichterisches Werk und seine Implikationen. »Geheimes Deutschland« ist der Titel von Georges wichtigstem Gedicht. Es ist ein schillerndes Wort, eine uneingeholte Herausforderung, eine Gemeinschafts-Vi­sion.Im George-Kreis hat es verschiedene miteinander konkurrierende Bedeutungen, je nachdem wer es wann verwendet. Freun­de Georges sahen es als »eine Gruppe von Personen, die dieses verkörpern oder verheißen, zugleich als Vision eines Deutschland, das eine ›innerliche Einheit‹ nach Vorstellungen Stefan Georges darstellt; schließlich wird dieser Begriff auch synonym gebraucht für den George­-Kreis« (Eckhart Grünewald).In dem Gedicht »Geheimes Deutschland« führt George die zentralen Motive seines späten Werks zusammen: Er erinnert sich an Ereignisse und Personen aus seinem eigenen Leben, er stiftet und umreißt eine dichterische Ahnenreihe, re­flektiert den Ersten Weltkrieg und moderne gesellschaft­liche Probleme, und er wirft die Frage auf, wie antikes Griechenland, zeitgenössisches Deutschland und ein uto­pisches neues »Reich« zusammengehören. Das Gedicht zeichnet das Bild einer von Gier und Schamlosigkeit geprägten Zeit. Ein unerwartet auftretendes Fabelwesen verspricht dem Dichter, er werde Anzeichen für eine Alternative zu jener vermeintlich alles beherrschenden Lebensweise finden. Er findet sie in einer Reihe von Gestalten, zu denen Homosexuelle und Juden, Kosmopoliten und Vaganten gehören – nicht das Material, aus dem Nazis werden. In meinem Buch habe ich versucht, die Offenheit von Georges Werk darzustellen, das sich totalitären Vereinnahmungen, deren Zugriff es spürt, immer wieder entzieht.

Georges Dichtung steckt einen außergewöhnlich breiten Raum ab, von der voll tönenden Rede vom Neuen Reich bis zu fast biedermeierlichen Bil­dern von vertrockneten Blumen auf der Fensterbank. Sie spricht auch die an, die für ihre verheerenden Ideologien nach Futter suchen. Sie widerspricht ihnen nicht durch ein direktes, womöglich leicht erschöpftes Argument, sondern durch die Bandbreite ihrer Bilder und Themen und die hermeneutische Offenheit ihrer Anlage. Diese Offenheit kann ihren einschränkenden Missbrauch nicht verhindern, sondern immer nur in Frage stellen. Dazu bedarf es aber eines Lesers, der die Fülle der Dichtung an­erkennt.

Zweitens, Georges Äußerungen zur NSDAP. Durch die Publikation der Aufzeichnungen von Clotilde Schlayer, die sich in Georges letzten Lebensjahren um ihn gesorgt und gekümmert hat, erhielten wir dieses Jahr Einblick in Georges distanzierte, ironisierende, die Dramatik der anstehenden Veränderungen ahnende Haltung. Den Antwortbrief, den er an Joseph Goebbels schrieb, hat Thomas Karlauf in seiner George-Biographie untersucht.

Drittens, Äußerungen und Handlungen von Georges Freunden. Das Spektrum reicht von Ernst Kantorowicz, der sich und George mit seiner Vorlesung „Das geheime Deutschland“ (mit dem bestimmten Artikel, der bei George fehlt) öffentlich und unmissverständlich von der NSDAP und ihrer Ideologie distanzierte und ins Exil ging, bis zu Woldemar von Uxkull, der ebenfalls an einer Universität im Rahmen einer flammenden Rede zu zeigen versuchte, dass das gesamte Werk Georges den Nationalsozialismus vorausdeute. Die Spannung vieler Positionen und vieler Graustufen dazwischen hat Ulrich Raulff dargestellt und analysiert. Die unterschiedlichsten Stellungnahmen sollten durch den Bezug auf Georges Werk legitimiert werden. Dessen subversive Komplexität blieb oft unberücksichtigt.

Viertens, die Haltung der Nationalsozialisten selbst zu George. Auch hierzu gibt es eine aussagekräftige Forschungsliteratur (angefangen mit der Dissertation von Martin Siemoneit aus dem Jahr 1978), die zeigt, wie aus dem anfänglichen Versuch der Kooptation während der Konsolidierung des Regimes relativ schnell Indifferenz, dezidierte Ablehnung und klammes Totschweigen wurden.

Es ist nicht nur nützlich, bei Diskussionen über das „geheime Deutschland“ im Speziellen und das Thema “Stefan George und der Nationalsozialismus” im Allgemeinen diese Quellen zur Kenntnis zu nehmen, es ist auch eine Frage der Redlichkeit, deren Fehlen gern beklagt wird.

 

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Christophe Fricker
Stefan George: Gedichte für Dich

Stefan George lädt uns ein: „Komm in den totgesagten park und schau“. Gehen wir mit. Dieses Buch begleitet den Leser durch das totgesagte, längst wieder lebendige Land von Georges Gedichten. George kritisiert den rücksichtslosen Kapitalismus und die Verantwortungslosigkeit unmenschlicher Beziehungen, den Aktionismus von Politikern und die Naturzerstörung durch Industriebetriebe. Stefan George: Gedichte für Dich widmet sich diesem Werk.

„Fricker teilt Georges skeptischen Blick auf die Moderne, schätzt seinen Versuch, auf moderne Weise antimodern zu sein, sich einem Senkblei gleich in die Gegenwart hinabzulassen, um sich gegen deren Zumutungen zu wappnen, gegen Machbarkeitsglauben, entgrenzten Individualismus und die heute wieder so aufgeputzte Rede vom vermeintlich Alternativlosen. Frickers Sicht belebt und erfrischt.“ (DIE WELT)

Christophe Fricker
Stefan George: Gedichte für Dich
Berlin: Matthes & Seitz, 2011

383 Seiten, 29,90 Euro